12.05.2025

Sabine Richter: NORLAS Übersetzerin des Monats im Interview

Sabine Richter übersetzt norwegische Belletristik und Sachbücher ins Deutsche.

Sabine Richter. Foto: privat

Sabine Richter ist ursprünglich aus Ostdeutschland, hat sehr viele Jahre in Norwegen gelebt und gearbeitet, aber auch in den USA, in Großbritannien, Australien, Spanien und im Iran. Sabine lebt jetzt im schönen Wien, pendelt jedoch sowohl nach Oslo als auch nach Madrid.
Ihre letzten Arbeiten sind die deutschen Übersetzungen von Kjersti Anfinnsens Romanen De siste kjærtegn und Øyeblikk for evigheten, die im Januar 2025 unter dem Titel Letzte zärtliche Augenblicke (Septime Verlag) in einem Sammelband erschienen sind.

Wie bist du Norwegischübersetzerin geworden?

Alles begann damit, dass ich mich hoffnungslos – oder besser gesagt hoffnungsvoll – als Siebenjährige, die gerade mit der Schule begonnen und eine Führung durch unsere Kinderbibliothek erlebt hatte, ins Lesen verliebte. Zu Hause hatten wir nur zwei oder drei Bücher, erinnere ich mich: ein dickes Telefonbuch und zwei Kochbücher. Von da ab ging ich an den zwei Tagen in der Woche, an denen die Kinderbibliothek geöffnet hatte, dorthin, verschlang alles, was ich an Kinder- und Jugendbüchern, Lexika, Sachbüchern finden konnte – und als ich zwölf war, hatte ich absolut alles, was dort in den Bücherregalen stand, gelesen. Dann erlaubte man mir, vorzeitig in die Erwachsenenbibliothek überzuwechseln, um dort weitere Bücher zu finden.

Später, nach dem Abitur, arbeitete ich zwei Jahre in einer Berliner Buchhandlung, dann folgten ein Germanistik- und ein Anglistikstudium – und in den Wirren der Wendezeit ein bis dahin nicht frei zugängliches Skandinavistikstudium in Greifswald. Meine Diplomarbeit in Literaturwissenschaft schrieb ich über die Tagebücher eines deutsch-jüdischen Schriftstellers. Es folgten weitere und viele Sprach- und Literaturstudien zuerst in Oslo – nebenbei arbeitete ich dort sehr viel, um irgendwie über die Runden zu kommen, dann noch mehr Unterrichtsarbeit an Universitäten in England, d. h. mehrere Jahre lang unterrichtete ich deutschsprachige Literatur und Sprache und studierte parallel dazu selbst noch Allgemeine Literaturwissenschaft und machte meinen M. A. in Vergleichender Literaturwissenschaft und norwegischer Literatur. Wieder zurück in Oslo unterrichtete ich an der Universität Oslo wieder norwegische Studenten und leitete mehrere Weiterbildungskurse für norwegische Deutschlehrer mit dem Schwerpunkt auf deutschsprachiger Literatur und Sprache. Hinzu kamen viele, anspruchsvolle und interessante Dolmetschaufträge für das wunderbare norwegische Nationaltheater. Hier sieht man also die Umrisse einer Grenzgängerin und hoffentlich auch einer Literaturvermittlerin.

Tja, wenn man ein Bücher-Junkie ist und sozusagen alles Zugängliche, was man in einer Fremdsprache, die man schon beherrscht oder noch lernen will, liest, entdeckt man immer eine gewisse Diskrepanz zwischen dem Originaltext und einer Übersetzung. Das kann oft frustrierend, aber mitunter auch überraschend erhebend sein. Hat man Glück, dann entdeckt man in der Arbeit eines guten Übersetzers ein gewisses Fingerspitzengefühl und eine Art Kunstfertigkeit. So etwas erfüllt mich immer mit Bewunderung und großem Respekt; solche Erlebnisse haben zeigen mir meine Vorbilder.

Weil wir alle aber Werkzeug brauchen, um unsere Träume zu verwirklichen, reichen Wille und diverse Arbeitserfahrungen jedoch nicht; man braucht eine ordentliche Ausbildung und formelle Qualifikationen. Darauf habe ich lange und intensiv hingearbeitet – was nicht leicht ist, wenn man als Freischaffende sein Leben fristet und sogar noch unter so etwas wie Prüfungsangst leidet – und heute bin ich staatlich geprüfte und zugelassene Übersetzerin und staatlich geprüfte Dolmetscherin. Es hilft, auf ein Ziel hinzuarbeiten, auf dem Weg dahin sehr viel lernen zu müssen, worauf man so gar keine Lust hat, aber doch lernen muss. Es hilft, hartnäckig zu bleiben und sich nicht darum zu scheren, ob es lange dauert und man mehrere Anläufe braucht …

Und dann braucht man auch noch ein bisschen Glück im Leben: Vor vielen Jahren schlug mir ein Kollege an der Universität vor, den kleinen Roman eines früheren KZ-Häftlings aus Sachsenhausen, in der Nähe meines Heimatortes, zu übersetzen. Das war wohl ein Zeichen. Und eine Art moralische Verpflichtung, so etwas wie Sühne, etwas Persönliches, denke ich. Ich finde es wichtig, einen persönlichen Bezug zu einem Buch und eine persönliche Motivation zu haben, wenn man es über viele Monate hinweg viele Tage und Nächte lang übersetzen soll. Ich denke an diejenigen, die dieses Buch in der ihnen unbekannten Sprache nicht zu lesen vermögen und deshalb die Möglichkeit haben sollen, es in ihrer Muttersprache, in diesem, meinem Fall auf Deutsch, tun zu können. … Was für ein Glücksgefühl ist es doch, mit jemand anderem ein Leseerlebnis teilen zu können – ich z. B. mit meiner Schwester, die keine Fremdsprachen kann, aber dennoch offen und neugierig ist.

Übersetzen ist für mich darüber hinaus ein persönlicher und identitätsstiftender Prozess: Es ist wie ein stetiges Nachhausekommen. Es bedeutet für mich, in meiner eigenen Sprache zur Ruhe zu kommen – unabhängig davon, wo in der Welt ich mich in eben diesem Augenblick befinden mag und welche Fremdsprache die Menschen um mich herum gerade sprechen mögen.

Arbeitest du gerade (oder hast du früher) mit etwas anderem als Übersetzungen gearbeitet?

Die kurze Antwort: Ja, das tue ich oder besser gesagt, das mache ich seit Jahren.

Wie bereits erwähnt bin ich eigentlich ausgebildete Literaturwissenschaftlerin, Germanistin und Skandinavistin, d. h. ich habe mich immer im Grenzbereich zwischen zwei oder mehreren Kulturen bewegt. Ich habe deutschsprachige Literatur für norwegische Studenten in Oslo und in Halden unterrichtet, über die Jahre hinweg in Norwegen viele Weiterbildungskurse für norwegische Deutschlehrer abgehalten, englische und internationale Studenten in Norwich, Cambridge, Canberra, Teheran und am Goethe-Institut in Oslo unterrichtet – und Norwegisch für deutsche Studenten an meiner alten Universität in Berlin. Zu Spitzenzeiten hatte ich vier verschiedene kleinen Stellen gleichzeitig. Dabei lernt man so manches über seine eigene Arbeitskapazität, doch ein Leben als Freischaffende ist, wie viele Leser nur allzu gut wissen, wirklich nicht leicht. Ich habe meinen Studenten immer von einem Dasein als Freischaffende abgeraten und sie ermutigt, sich eine interessante Arbeit zu suchen, die ein stabiles Einkommen verspricht und die Möglichkeit bietet, ab und an freinehmen zu können und auch ein bisschen Urlaub zu haben, um dann ihrer Kreativität, neben einem solchen Leben im A4-Format, nachgehen zu können. (Die Ausnahme wäre hier, z. B. Fachübersetzer im Bereich Jura oder Medizin zu werden; in der Regel wird man als solcher fair und gut bezahlt.) Und das mit Freude und Energie und ohne sich existenzielle Sorgen machen zu müssen. Letzteres kann einen krank machen …

Dein südkoreanischer Kollege Yu-jin Lee gab den Stafettenstab mit folgenden Fragen an dich weiter:

«Hallo Sabine, danke für unser Gespräch während der Übersetzerkonferenz in Kløfta!
Ich habe großen Respekt davor, dass du verschiedene Genres übersetzt.
Und ich frage mich, ob da, was den gegenwärtigen deutschsprachigen Buchmarkt betrifft, ein besonderer Trend für norwegische Gegenwartsliteratur zu verzeichnen ist? Und: Welches norwegische Buch würdest du am liebsten übersetzen wollen?»

Danke, Yu-jin Lee, für deine Offenheit und unser Gespräch in Kløfta! Unsere Welt fühlt sich sicherer an, wenn man weiß, dass gute Leute und Brückenbauer wie du sich für dieselben Dinge interessieren und dafür brennen. Wir haben ziemlich viel gemein.

Deutschsprachige Leser wissen das, aber vielleicht nicht so viele andere außerhalb von Österreich, Deutschland und der Schweiz: Fast alles, was an norwegischer Literatur nur irgendwie brauchbar ist, wird – dank großzügiger Unterstützung vonseiten Norwegens und dank enthusiastischer Übersetzer und Verleger – ins Deutsche übersetzt. Norwegische Autoren genießen in den deutschsprachigen Ländern in der Regel viel Aufmerksamkeit und viele Literaturliebhaber haben eine Art wilde und oft romantische Bewunderung für alles, was aus dem kleinen, exotischen und reichen Norwegen kommt, das so nah bei uns liegt, aber auch an der Peripherie Europas. Selbstverständlich werden nicht alle norwegischen Bücher im großen Ausland zu Bestsellern, aber wieder und wieder. Zu verdanken haben wir das früher besonders Jostein Gaarder, aber in den letzten Jahren auch Jo Nesbø, Karl Ove Knausgård, Roy Jacobsen, Maja Lunde, um nur ein paar wenige zu nennen. Und weitere, so hoffe ich, werden hinzukommen.

Eine norwegische, befreundete Übersetzerin hat einen wunderbaren Band von Erzählungen über einige faszinierende historische Persönlichkeiten geschrieben. Das ist mein Traum, dieses ungeheuer gut geschriebene, kreative und anspruchsvolle Buch zu übersetzen. In einem immer schwächer werdenden deutschsprachigen Buchmarkt und mit vielen Lesern, die sich um ihre Zukunft sorgen und verständlichweise Probleme haben, sich auf literarisch und sprachlich anspruchsvolle oder längere Texte zu konzentrieren, stellt das ein Projekt dar, für das wir viel Geduld aufbringen müssen. Nicht gerade meine starke Site, das mit der Geduld, aber dennoch …

Du hast Bücher in vielen unterschiedlichen Genres übersetzt: Romane und Sachbücher, Dramatik, Kinder- und Jugendbücher und auch Kunstbände. Gibt es ein bestimmtes Genre, mit dem du in Zukunft besonders gern arbeiten würdest?

Ich finde es eine Bereicherung und anregend und in meinem Fall vielleicht sogar unerlässlich, mit verschiedenen Genres zu arbeiten. Es ist eine stetige und immer neue Herausforderung – auch wenn ich z. B. nicht übermäßig begeistert bin, juristische Dokumente zu übersetzen, was ich ab und an tue – doch man lernt ja ständig etwas Neues, hat die Möglichkeit, zu wachsen. Effektiver und finanziell gesehen klüger wäre es vielleicht, sich zu spezialisieren, jedoch bei Weitem nicht so interessant.

Ich möchte gern mehr Belletristik übersetzen. Mein Traum ist vielleicht sogar norwegische Belletristik, die die Zeiten überdauern kann und auch noch in vielen Jahren gelesen wird, nicht nur nach einer Buchmesse und nach viel Medienrummel? Ach, ich wünschte, ich könnte ab und zu etwas pragmatischer denken!

Was wärst du geworden, wenn nicht Übersetzerin?

Menschen, mit ihren vielfältigen Geschichten und zu treffenden Entscheidungen, haben mich schon immer brennend interessiert. Als ich als Siebenjährigen zum allerersten Mal unsere Kinderbibliothek besuchte, war ganz klar: Ich würde Bibliothekarin werden! Dann würde ich ja alle meine Tage inmitten von Büchern zubringen, die ganze Zeit lesen, mich in Dinge vertiefen, mehr lernen können und klüger werden!

Als Achtjährige begann ich, allein mit den Nachbarskindern ins Kino zu gehen – damals, vor gefühlten tausend Jahren, natürlich ohne unsere Eltern! Da entdeckte ich einen neuen Beruf für mich: Platzanweiserin im Kino! Dann würde ich alle diese tollen Filme sehen können und das sogar mehrmals! Perfekt!

Als Zwölfjährige ging ich ganz begeistert aus einer Deutschstunde mit unserer geliebten Frau Löschner, einer wirklich eleganten und gebildeten Dame mit ihren Bernsteinketten, hochgesteckter Frisur und langen Röcken, die gerade die Novelle "Der Schimmelreiter“ (1888) des norddeutschen Autors Theodor Storm behandelt hatte, und ich begann zu verstehen, was Literatur als Kunstform beinhalten konnte: Erleben, Einsicht, Glücksgefühle! Und da dachte ich: Hm, Autorin oder Lehrerin (wurde ich dann) und Literaturdozentin (wurde ich auch) und eine Art Vermittlerin (wurde ich ebenfalls)?

Und in den Jahren danach dachte ich an Souffleuse am Theater, Schauspielerin, Buchhändlerin (war ich), Reiseführerin (dito), Dolmetscherin (wurde ich auch). Tja, all das hat mit Literatur, Geschichten-Erzählen und Menschen zu tun, oder? Kann schon sein, dass ich mich irgendwann noch einmal neu erfinden muss … Reicht euch die Antwort?

Welche Frage hätten wir dir stellen sollen?

Hättet ihr mich gefragt, welche Belletristik der letzten Jahre mich tief beeindruckt hat, dann würde ich diese wunderbaren, inspirierenden Texte hier empfehlen:
- deutsch: W. G. Sebald Die Ringe des Saturn. 1995 (ins Norwegische übersetzt von Geir Pollen unter dem Titel Saturns ringer und ins Englische von Michael Hulse unter dem Titel The rings of Saturn)
- österreichisch: Robert Seethaler Ein ganzes Leben. 2014 (ins Norwegische übersetzt von Ute Neumann unter dem Titel Et helt liv und ins Englische von Charlotte Collins unter dem Titel A whole life)
- deutsch: Dörte Hansen Zur See. 2022
- norwegisch: Margreth Olin Song til mor. 2024
- norwegisch: Kjersti Anfinnsen De siste kjærtegn [Die letzten Zärtlichkeiten]. 2019 und Øyeblikk for evigheten [Augenblicke für die Ewigkeit]. 2021 (Bisher in mehr als 12 Sprachen übersetzt, doch erstaunlicherweise noch nicht ins Englische.)
Anmerkung: Die beiden letztgenannten Romane – ein Geheimtipp für alle Literaturliebhaber, unabhängig von Muttersprache oder vom geografischen Hintergrund – hatte ich die große Freude, für den österreichischen Septime Verlag übersetzen zu können, der diese im Januar 2025 in einem Sammelband unter dem Titel Letzte zärtliche Augenblicke herausgebracht hat. Das ist meines Erachtens existenzielle, wunderschöne Literatur, die auch in den kommenden Jahren gelesen werden wird.

Die österreichische und die beiden norwegischen Umschlagillustrationen der beiden Romane von Kjersti Anfinnsen über Birgitte Solheim.

Wir hoffen, dass du den Stafettenstab für den Übersetzer des Monats an einen anderen Norwegischübersetzer weiterreichen möchtest. An wen würdest du ihn weitergeben – und welche Fragen würdest du ihr/ ihm stellen wollen?

Den Stafettenstab möchte ich an Mariana Windingland in Argentinien weitergeben und ihr dabei gern mehr als nur eine Frage mit auf den Weg geben:

- Was reizt dich besonders an der Übersetzung dramatischer Texte?
- Welche norwegische Autorin/ welcher norwegische Autor könnte eine Neuübersetzung gebrauchen können und warum? Welchen ihrer/seiner Texte würdest du zuallererst wählen?
- Welche norwegische Literatur könnte lateinamerikanische Leser in diesen wechselvollen Zeiten interessieren?

Zum Weiterlesen:

Mehr über Sabine Richter hier

Weitere Interviews der NORLA-Serie hier

Übersetzerinnen und Übersetzer sind unsere wichtigsten Akteure, um norwegische Literatur in der Welt bekannt zu machen. Weil ihre Arbeit von grundlegender und entscheidender Bedeutung ist, startete NORLA 2015 mit der Serie von Interviews «Übersetzerin / Übersetzer des Monats».

Alle Interviews auf Norwegisch finden Sie hier

(Aus dem Norwegischen von Sabine Richter)